Hunderttausende KZ-Häftlinge kamen noch in den letzten Monaten des NS-Regimes bei Gewaltmärschen ums Leben: Todesmarsch-Mahnmal in Dachau.
Es ist gar nicht einfach, 73 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges über die professionelle Rezeption durch die historische Zunft hinaus öffentliches Interesse für neuere Forschungsergebnisse zur Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen zu wecken.
Die nun als Buch vorliegende Dissertation von Martin Clemens Winter "Gewalt und Erinnerung im öffentlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche" verdient dieses breitere Interesse jedoch ganz zweifellos.
Sie leistet einen herausragenden Beitrag nicht nur zur Aufklärung historischer Fakten über das letzte nationalsozialistische Massenmordverbrechen vor der Befreiung durch die Alliierten, sondern ebenso zur Sozialgeschichte der deutschen "Volksgemeinschaft" im ländlichen Raum in diesem Zeitraum.
Die Geschichte der Räumung der nationalsozialistischen Konzentrationslager vor Eintreffen der alliierten Truppen hatte im Juli 1944 kurz vor der Befreiung des Todeslagers Majdanek bei Lublin durch Einheiten der Roten Armee begonnen und endete im Mai 1945 in Österreich, wo das Konzentrationslager Mauthausen bei Linz am 5. Mai als letztes Hauptlager von US-Truppen befreit wurde. Die Zahl der Häftlinge, die im Laufe dieser zehn Monate - ihre Befreiung vor Augen - noch zu Tode kamen, kann aufgrund der schlechten Quellenlage nur geschätzt werden und wird auf 200 000 bis 350 000 Opfer beziffert.
Zu Kriegsende 1945 karrt die SS in einem Zug Tausende KZ-Häftlinge durchs heutige Tschechien. Nahe Prag hilft die Bevölkerung den Gefangenen - ein heimlich aufgenommener Film dokumentiert die beispiellose Aktion. Von Oliver Das Gupta, Prag
Die Geschichtswissenschaft, die erst Jahrzehnte nach 1945 begonnen hatte, sich mit dem nationalsozialistischen Lagersystem auseinanderzusetzen, begann noch einmal erheblich später, sich der Geschichte der Todesmärsche zuzuwenden. Dann entstanden in den 1980er- und 1990er-Jahren eine Reihe von Studien vor allem zur Lokal- und Regionalgeschichte.
Der in Nordhausen am Harz unweit des Geländes des ehemaligen Konzentrationslagers Mittelbau-Dora geborene Historiker Martin Clemens Winter hatte sich schon als Jugendlicher mit der Geschichte der KZ-Verbrechen beschäftigt und konnte sich deshalb bei seiner Untersuchung auf ein breites Vorwissen stützen. Es entstand die erste deutsche Studie, die das gesamte west-östliche Spektrum der Räumungen der Konzentrationslager innerhalb Deutschlands in den Blick nimmt.
Die Darstellung beschränkt sich allerdings nicht auf den Verlauf der Todesmärsche und -transporte und die dort begangenen Verbrechen, die unter dem Begriff "Handlung" zusammengefasst werden. Sie wird ergänzt durch die beiden Themenabschnitte "Ahndung" und "Erinnerung". Der etwa 170 Seiten umfassende erste Teil "Handlung" unterteilt das umfangreiche Quellenmaterial wiederum in die drei Bereiche "Raum", "Akteure" und "Situationen".
Winter beschreibt den geografischen Raum, durch den die Häftlinge auf Fußmärschen oder zusammengedrängt in Güterwaggons von Osten nach Westen, von Westen nach Osten und schließlich von Norden nach Süden getrieben oder transportiert wurden. Wer aus Erschöpfung nicht weiterlaufen konnte oder zu fliehen versuchte, wurde erbarmungslos erschossen.
Dies geschah flächendeckend und vor den Augen der Bevölkerung, die überwiegend mit Indifferenz reagierte, aber auch tatkräftige Unterstützung bei Mord und Totschlag leistete. Nur deshalb funktionierte der Ablauf der Evakuierungen, der nicht mehr zentral gesteuert war und der den Massenmord zu einem öffentlichen Gemeinschaftsverbrechen machte.
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