Die Schweiz will ihr Atommüll-Endlager in Nördlich Lägern errichten. Zwei Kilometer entfernt befindet sich die deutsche Gemeinde Hohentengen. Deren Bürger sind wütend, haben Angst - und fühlen sich überrumpelt.
Martin Benz eröffnete gerade das Weinfest, als in Hohentengen Unruhe aufkam. Warum trifft es ausgerechnet uns?, wollten die Einwohner der kleinen Grenz-Gemeinde wissen. Was bedeutet die Ankündigung der Nagra?
Die Nagra, das steht für „Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle“ - die Organisation, die sich in der Schweiz um die sichere Unterbringung von Atommüll kümmert.
Benz musste sich erst einmal sortieren, denn auch der Bürgermeister des 3700-Einwohner-Orts fühlte sich überrumpelt. An jenem Weinfest-Samstag wurde bekanntgegeben, dass die Schweiz ihr Atommüll-Endlager in Nördlich Lägern bauen will.
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Der vorgesehene Standort liegt so nah an Hohentengen, dass manche Einwohner das Gebiet sehen können, wenn sie aus dem Fenster schauen. „Ich selbst wusste von den Plänen schon am Mittwoch, durfte mich aber bis Montag nicht dazu äußern“, sagt Benz im Gespräch mit FOCUS online.
Das Vorpreschen der Nagra erwischte auch ihn „kalt“, wie er erzählt. Jetzt sind viele Menschen in Hohentengen verunsichert, wütend und haben Angst. Davor, bald in Endlager-Nähe zu wohnen. Davor, dass der Wert ihrer Grundstücke sinkt, sobald sie offiziell im Atommüll-Einzugsgebiet leben.
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Vor allem aber verstehen sie nicht, warum plötzlich radioaktive Abfälle nahe der baden-württembergischen Gemeinde untergebracht werden sollen. „Atommüll ist da, er muss entsorgt werden und das am sichersten Ort, da sind wir uns alle einig“, meint Bürgermeister Benz.
Und wenn das nun mal Nördlich Lägern sei, dann trage man die Entscheidung mit. Ein Gutachten aus dem Jahr 2015 wühlt ihn und viele Hohentengener aber auf.
Damals hielt die Nagra das Gebiet als Atommüll-Endlager nämlich noch für eher ungeeinget, wollte es nicht weiter untersuchen. Sie sah aus bautechnischer Sicht klare Nachteile und bewertete das Platzangebot für den Lagerbau in 600 bis 700 Metern Tiefe als zu klein.
„Ich erinnere mich genau an den Wortlaut. Jeder Experte riet von dem Standort ab, hieß es“, sagt Benz. Doch nachdem die Nuklearaufsichtsbehörde der Schweiz intervenierte, kehrte Nördlich Lägern ins Endlager-Rennen zurück.
Nachfolgende Tests hätten ergeben, dass die Gesteinsfestigkeit doppelt so gut wie anderswo und der Entscheid 2015 „zu vorsichtig“ gewesen sei, sagte Nagra-Chef Matthias Braun auf einer Pressekonferenz am Montag.
Ihm zufolge ist das Gestein in Nördlich Lägern nicht nur sehr dicht und bindet radioaktive Materialien wie ein Magnet. Es hat auch noch einen anderen wesentlichen Vorteil: „Sollte es doch einmal brechen, heilt es sich von selber wieder.“
Eine Erklärung für den plötzlichen Sinneswandel der Nagra gibt es also. Für viele Menschen reicht sie aber nicht aus, um Nördlich Lägern als neuen Endlager-Favoriten zu akzeptieren.
Bürgermeister Benz zum Beispiel findet, dass das Ganze einen „üblen Beigeschmack“ hat. Er fragt sich, ob politische Motive hinter der Entscheidung stecken, ob man sich für Nördlich Lägern nur entschied, weil der Widerstand in der Schweizer Grenzregion geringer ist als anderswo.
Außerdem wird die Nagra von Schweizer AKW-Betreibern finanziert. Wie unabhängig kann ein solches Gremium schon sein?
Auch die lokale Initiative „Nördlich Lägern ohne Tiefenlage“ kann den Sinneswandel nicht wirklich nachvollziehen. „Auf welchen Druck wurde neu gewichtet und gelten andere Regeln? Wie glaubhaft ist eine Organisation, die ihren Entscheid um 180 Grad ändert?“, heißt es in einem Kurzstatement der Schweizer Gruppe, das FOCUS online vorliegt.
Selbst Experten sehen den Nagra-Vorschlag kritisch. Der Schweizer Geologe Marcos Buser etwa glaubt, das Auswahlverfahren sei „nicht sauber geführt worden“ und vermutet, dass es zu „versteckten Steuerungen“ kam. Die Sorgen der Bevölkerung kann er gut verstehen.
„Wie will man einem Unternehmen und einem Bundesstaat glauben, die immer wieder hinter den Kulissen reden und 'Päcklis' schmieden, die nie ganz transparent sind?“, fragt er.
Buser findet den Endlager-Bau in Nördlich Lägern aber auch aus anderen Gründen problematisch. Denn das Gebiet liegt über „einem tief in das kristalline Grundgebirge eingesenkten Trog, der Ressourcen wie Kohle und möglicherweise Erdgas enthält“, erklärt er.
Eine Tatsache, die es als Endlager-Standort eigentlich disqualifizieren müsste, zumindest in Busers Augen. Denn nicht nur geologische Kriterien wie die Wasserführung von Gesteinen und die Stabilität von Formationen spielen bei der Frage, wo Atommüll gelagert werden darf, eine Rolle.
„Auch das Vorhandensein von abbauwürdigen Ressourcen und die Nutzung des Tiefuntergrundes ist ein wichtiges Kriterium“, sagt er. Andere Fachleute reagieren zurückhaltender, wenn man sie nach dem Vorgehen der Nagra fragt.
Michael Sailer, der von 2014 bis 2016 Mitglied der deutschen Endlagerkommission war, kann grundsätzlich verstehen, dass ein abgelehnter Standort noch einmal genauer unter die Lupe genommen wird. Gerade, wenn Experten Kritik an dem Veto üben.
„Ich würde aber gerne einen genauen Blick in sämtliche Unterlagen werfen, um den Sinneswandel der Nagra wirklich nachvollziehen zu können“, sagt er im Gespräch mit FOCUS online. Für Sailer ist klar, dass die Nagra ihre Entscheidung wasserfest begründen muss. „Das ist zwingend notwendig, gerade auch, weil die ansässige Bevölkerung verunsichert ist.“
Verunsichert - und vom Entscheidungsprozess der Nagra ausgeschlossen, zumindest, was die deutsche Seite angeht. Denn die Hohentengener sind zwar seit Jahren von der Endlager-Findung betroffen, dürfen letztlich aber nicht mitbestimmen.
„Dabei machen die Auswirkungen eines Endlagers nicht an der Grenze halt“, sagt Bürgermeister Benz. Er und seine Gemeinde setzen nun darauf, dass die deutschen Behörden etwas unternehmen. „Uns sind die Hände gebunden“, meint er.
Tatsächlich soll die Expertengruppe Schweizer Tiefenlager (ESchT) im Auftrag des deutschen Bundesumweltministeriums eine Einschätzung abgeben, wie nachvollziehbar der Standortvorschlag der Nagra ist. Immerhin würden die deutschen Anwohner durch ein Atommüll-Endlager belastet.
Sorgen um Gesundheit, Tourismus und ihre Eigenheime machen sich die Hohentengener schon jetzt. „Wer will schon Urlaub machen in der Nähe eines Atommüllendlagers?“, sagte ein Anwohner dem „Südkurier“ .
Ein anderer befürchtet, dass die Immobilienpreise sinken und Hohentengen nicht nur zur Schweizer Atom-Müllkippe wird. „Möglicherweise rückt dadurch auch ein deutsches Endlager in der Region näher“, sagte er dem Blatt. Für den Anwohner ist die Standort-Wahl „unbegreiflich“.
Gefährlich ist ein Endlager für die ansässige Bevölkerung laut Experte Buser allerdings wohl nicht. Vorausgesetzt, die Atommüll-Behälter werden „richtig gefertigt, beladen und verschlossen“. Störfälle könnten zwar immer wieder auftreten. Dadurch, dass die Brennelemente im Zwischenlager in Würenlingen verpackt werden sollen, sei das Risiko aber gering.
Neben Hohentengen gibt es noch fünf weitere deutsche Gemeinden, die im unmittelbaren Umkreis des geplanten Endlagers liegen würden. Das deutsche Umweltministerium teilte mit, die Schweiz sei grundsätzlich zu Ausgleichszahlungen bereit.
Bis in Nördlich Lägern aber wirklich ein Endlager entsteht, gibt es noch einiges zu klären. Die Nagra will bis 2024 Rahmenbewilligungsgesuche für das Tiefenlager und die Brennelementverpackungsanlage erarbeiten und diese dann beim Bund einreichen.
Erst, wenn die Gesuche von Behörden und Expertengremien geprüft wurden, wenn der eidgenössische Bundesrat und das Parlament dem zugestimmt haben und wenn das Anliegen ein mögliches Referendum überstanden hat, kann mit dem Endlager-Bau begonnen werden.
Schätzungen zufolge wird das nicht vor 2031 passieren. Sogar die Nagra schreibt, dass die ersten Abfälle „frühestens in 30 Jahren“ eingelagert werden könnten. Bürgermeister Benz hat also nicht ganz Unrecht, wenn er sagt: „Das Thema wird uns noch eine ganze Weile beschäftigen.“
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können die Schweizer ihren Atommüll dort einlagern. Wo sie es für am Sichersten und daher Sinnvollsten erachten
kann man ja nach einem Technikupdate Atommüll in den Schließfächern der Schweizer Banken lagern, so ganz verschwiegen und anonym. Ivan Glasenberg und Glencore haben Russland nach der Krimmannektion finanziell den Allerwertesten gerettet, eine wesentliche Voraussetzung für den politischen Status Quo in Europa. Die selbstzufriedenen, satturierten Schweizer sind sich also für nichts fies. Klar ein paar schweizer Oppositionelle in der Schweiz, das ist gut fürs schweizer Image und die sorgen im Ausland für etwas Beißhemmung der Schweiz gegenüber. Gehört halt zur Pr.
Mittwoch, 14.09.2022 | 16:35 | WOLFGANG HAAS | 2 Antworten
Das nennt sich dann wahre Freunde. Im Umkehrschluss sollte Baden Würtemberg und der Bund überlegen die Start und Landeflüge von Schweizer Flughäfen direkt über Bundesgbiet zu verbieten, wir schulden der Schweiz nichts. Zur Erinnerung auch Frankreich sucht im Elsass und in Lohtringen nach einem Endlager, ein Schalem wer Böses dabei denkt.
...an der Schweizer Grenze ein Endlager selbst bauen. Brauchen tun wir es ja....und da könnte man doch ganz einfach in der Nachbarschaft auch eines bauen. Gleiches gilt für unsere Französischen Freunde....muss ja kein Endlager sein...kann ja auch ein "dauerhaftes Zwischenlager" sein.
Komisch, die meisten Leute sehen Atomkraftwerke als Produzenten für grünen Strom, die nicht lang genug laufen könnten. Wenn es aber um die ein bisschen strahlenden Abfälle geht, regen sich die Leute auf einmal auf und wollen die nicht mehr in ihrer Gegend gelagert wissen. Gegen Windräder, die wesentlich besser siond, weil kein solcher Müll produziert wird, seid ihr auch. Soll Strom etwa aus einer Luft_Steckdose kommen? Ihr wollt billigen Strom haben, also muss der auch irgendwie produziert werdebn.
Mittwoch, 14.09.2022 | 09:13 | Alber Andrea | 1 Antwort
shr viele Schweizer fahren regelmässig in die dt. Grenzregion, um einzukaufen. Auch lassen die Schweizer viel Geld auf diversen süddeutschen Weihnachtsmärkten und anderen Events liegen. Da hat sich noch niemand beschwert. Die Schweizer dürfen auf ihrem Staatsgebiet eine Endlager bauen.
Sind Sie schonmal auf die Idee gekommen, dass dies nicht an der traditionellen Deutschlandliebe der Schweizer, sondern vielmehr am Wechselkurs liegen könnte? Ich gebe Ihnen aber insofern recht, dass die Eidgenossen tatsächlich bauen dürfen, wo sie wollen.
den Atommüll soll bitte dann weit weg gelagert werden...alle wollen nen guten Mobilfunkempfang, aber der Sendemast soll bitte weit weg stehen...viele wollen erneuerbare Energien, aber das Windrad soll bitte nicht vorm Haus stehen.....liebe Bürger: Überlegt euch einfahc mal was ihr wollt und was IHR dann dafür tun oder in Kauf nehmen müsst!!!
Mittwoch, 14.09.2022 | 08:30 | Dagmar Kohlrausch | 1 Antwort
Atommüll auf - warum nutzen wir ihn nicht in Meilern der 4. und 5. Generation als Rohstoff? In diesem "Müll" steckt noch jede Menge preiswert Gewinnbare Energie, was die Müllmenge Halbswertszeit drastisch verringern würde. Aber wir pflastern unser Land lieber mit Fundamenten für Windmühlen und Solar zu.
als auf Wolkenkuckuckheime zu spekulieren, vielleicht braucht man in Zukunft auch keine Castortransporte mehr, man kann dann beamen. Das was irgendwelche Influenzer (Einflüsterer) mit schönen Bildchen unbedarften Techniklaien präsentieren ist wegen vieler technischer Probleme und irren Kosten so nicht realisierbar (Quelle VDI-Nachrichten)
liegen sozusagen ums Eck. Für Unwissende, ca 10km vor der Einmündung der Aare in den Rhein (Leibstatt 10 nach derselben). Der ganze Atommüll IST bereits in der Region (Würenlingen). Also was soll das Geschrei ?! Und im Übrigen werden laufend Castoren aus dem AKW dorthin transportiert. Weitestgehend ohne großes Aufgebot der Polizei. Ist einfach ein Schwertransport auf Schweizer Straßen......
Alle wollen "angeblich " billigen Atomstrom, aber keiner will den Müll. Wann versteht man endlich dass dies zusammen gehört?
Dienstag, 13.09.2022 | 23:23 | Bernhard Wagner | 2 Antworten
Auch Deutschland braucht ein Standort für ein Endlager.wenn es dort so sicher ist, wie die Schweizer ermittelt haben, dann können wir unseren Atommüll doch ebenfalls auf der deutschen Seite entlagern.
Das klingt doch schon einiges besser als diverse andere Kommentare Deiner Landsleute!! U.U. würde es Sinn ergeben das DE und CH in dieser Gegend gemeinsam ein Endlager baut.
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